Familie Strauß - Sonja Strauß

    Link kopieren

    Weidemann und Emma Friedrich

    Max Friedrich, Sonjas Vater, wurde am 20.10.1909 geboren. Er wuchs in einer Sinti-Familie auf, die – wie alle Angehörige dieser Volksgruppe - wegen ihrer Herkunft diskriminiert wurde. Max Friedrichs Eltern – Weidemann Friedrich (1880-1960) und seine Frau Emma, geborene Schober (1875-1963) - waren Schausteller, die von Stadt zu Stadt zogen.

    Innerhalb der Sinti-Gemeinschaft sprach man die Sinti-Sprache Romanes. Sonja kann sie nicht fließend sprechen, sie versteht aber fast alles. Bei den nachfolgenden Generationen sind die Romanes-Sprachkenntnisse ihrer Meinung nach leider noch schlechter.

    Joseph Friedrich

    Vor der Deportation der Sinti im Jahr 1943 wurde Weidemann Friedrich von örtlichen Dorfbewohnern gewarnt. „Die wollen Euch abholen. Verschwindet, so schnell Ihr könnt!“ Daraufhin flohen Weidemann und Emma nach Österreich, wo Verwandte als Schauspieler und Musiker in einem Wanderzirkus arbeiteten. Mit ihnen überlebten sie die Nazizeit und kehrten nach Kriegsende wieder in ihr Haus in Rattelsdorf zurück.
    Sie lebten später in Würzburg-Heidingsfeld. 1960 starb Weidemann, 1963 Emma Friedrich. Beide wurden in dem Familiengrab in Würzburg-Heidingsfeld beigesetzt.
    Ihr Sohn Josef Friedrich, der mit seiner Familie in Münchberg (Oberfranken) als Fabrikarbeiter lebte, floh 1943 auch mit seiner Familie nach Österreich, um der Deportation zu entgehen. Da man aber keinen Unterschlupf für ihn zur Verfügung stellen konnte, musste er nach Deutschland zurückkehren. Dort konnte er in einer Großbäckerei Arbeit finden. 1944 wurde er in Münchberg verhaftet und mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert.

    Sonja, Eva und Agatha Friedrich

    Sonja wurde als Tochter von Grete und Max Friedrich am 1. Oktober 1931 in Berlin geboren. Ihre Eltern wohnten in Bernau zur Miete. Ihre Oma Rosalie Schopper lebte in einer Mietwohnung in der Wollankstraße in Pankow. Sie besaß aber auch ein Gartenhaus in einer Laubenkolonie.
    Sonja hatte einen älteren Bruder Alfred (*1930) sowie 3 Schwestern: Agate (*1934), Eva (1935) und Waltraud (*1940).

    In Berlin wurden die Familie Friedrich und ihre Anverwandten um das Jahr 1930 mehrfach fotografiert. Alle Familienmitglieder übten Berufe aus. Sie besaßen Häuser in Berlin und hatten ein gutes Auskommen. Fotos aus glücklichen Tagen.

    Die Geschwister Schopper: v.l.n.r. Liese, Ella, Joseph, Grete (Sonjas Mutter) und Amanda Rosenbach. Ella, Joseph und Amanda überlebten die Nazizeit. Ella lebte nach dem Krieg in Würzburg, Joseph und Amanda in Nürnberg.
    V.l.n.r.: Eine Nichte („Weinela“) von Grete Friedrich, geb. Schopper, Sonjas Mutter. Sie wurde mit Mann und Kindern in Kroatien ermordet. Man hatte sie mit anderen Sinti-Familien in ein Haus getrieben und es angezündet. Liese und Ella, beides eine Schwestern von Grete. Ella überlebte die Nazibarbarei, Liese kam im KZ Ravensbrück ums Leben. „Sine“, eine Cousine von Max Friedrich. Sie wurde in Auschwitz ermordet. Antonie Steinbach, eine weitere Schwester von Grete. Sie kam 1945 kurz nach der Ankunft in Bergen-Belsen in der ersten Nacht ums Leben, ihr Sohn Heinzi starb am darauf folgenden Tag. Ihr zweiter Sohn starb in Auschwitz ebenso wie ihr Mann. Rosa Laubinger. Sie konnte vor der Deportation fliehen und sich verstecken. Sie überlebte die Nazibarbarei. „Marteli“, eine Schwester von Max Friedrich. Sie wurde in Auschwitz mit ihren Kindern ermordet. „Muschi“ Friedrich, eine Stiefschwester von Weidemann Friedrich. Sie war eine Geigenvirtuosin und spielte u.a. im Rundfunkorchester in Berlin. Sie wurde nicht deportiert und überlebte. Sie starb in Würzburg. Grete Friedrich, Sonjas Mutter. Ihr Schicksal wird weiter unten beschrieben.
    Liese Schopper (Grete Friedrichs Schwester), „Schotz“ Friedrich (Schwester von Sonjas Vater Max) und ihr Mann „Graseli“, „Mausili“ Friedrich (Schwester von Max Friedrich) und Grete, Sonjas Mutter. Liese starb in Bergen-Belsen, Schotz Friedrich in Auschwitz. Ihr Mann „Graseli“ war gegen Kriegsende als ehemaliger Soldat in die Wehrmacht gezwungen worden, floh aber und konnte sich bis zum Kriegsende verstecken.

    Die Familie von Max Friedrich wohnte – wie das bei Schaustellern damals üblich war - in einem Wohnwagen, der von Pferden gezogen wurde. Wie die Familie ihres späteren Mannes Adam Strauß besaß die Familie von Max Friedrich ein Kettenkarussell, eine Schießbude und eine Schiffsschaukel.

    Max, Alfred und Grete Friedrich (Fotomontage) Ende der 20er Jahre. Auf dem Foto ist Max 21 und seine Frau Grete 20 Jahre alt. Alfred wurde später in das Foto hineinmontiert.

    Max Friedrich übte nebenher in der kalten Jahreszeit den Beruf des Geigenbauers aus. In seiner Werkstatt reparierte er Geigen oder baute auch bisweilen Geigen selbst. Er beherrschte dieses Instrument auch virtuos. Die Kinder halfen manchmal in der Werkstatt, z.B. beim Polieren der Instrumente.

    Grete und Max Friedrich 1940

    Max Friedrich wurde am 7.Mai 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Sonja berichtet, dass er – Ende 1940 als wehrunwürdig erklärt – bis 1943 als Soldat in der Wehrmacht diente. Dann wurde er Anfang März in das Berliner Gefängnis Moabit gebracht und dann mit seiner Familie in der Uniform der Wehrmacht nach Auschwitz deportiert. Das war am 3. März 1943.

    Die Ankunft im Lager Birkenau beschreiben zwei ehemalige Häftlinge so:
    „Der erste Eindruck, den wir von Auschwitz bekamen war schrecklich, es war dunkel als wir angekommen sind. Ein riesiges Gelände, doch man hat nur die Lichter gesehen. Die Nacht mussten wir in einer großen Halle auf dem Fußboden verbringen. Am frühen Morgen mussten wir in das Lager marschieren. Dort hat man uns erstmal die Häftlingsnummern in den Arm tätowiert und die Haare abgeschnitten. Die Kleider, die Schuhe und die wenigen Dinge die wir noch dabei hatten, wurden uns weggenommen.“ – Elisabeth Guttenberger (deportiert im März 1943)

    „Als sich endlich die Waggons öffneten, empfing uns die SS mit Schlägen und Bluthunden – wir waren am Ziel. In diesem Moment hörten wir auf, Menschen zu sein. Wir waren nur noch Nummern. Alles, was wir hatten, wurde uns abgenommen. Allen, auch den Frauen und Kindern, wurden die Haare geschoren, allen, auch meinen beiden kleinen Mädchen, wurden Nummern eintätowiert.“ – Julius Hodosi

    Die Familie Friedrich kam mit Sonja, Ihrer Mutter Grete, ihrem Bruder Alfred sowie ihren 3 Schwestern Waltraut (3 Jahre), Agate (8) und Eva (7) am 14. März 1943 in Auschwitz-Birkenau an. Dort lebten sie im „Zigeunerlager“ B II e. Max Friedrich wurde als Häftling Nummer Z-2894 registriert, eine Nummer, die auf seinem Arm tätowiert wurde. Seit seiner Ankunft in Auschwitz war Max Friedrich nicht mehr Max Friedrich. Für die Nazis war er nichts weiter als die Nummer Z-2894. Sonja erhielt die Nummer 3246.
    Die Familie von Ewald Strauß, die in Cölbe lebte, erreichte Auschwitz am 26. März 1943.
    Als Sonja die Nummer gestochen wurde, versuchte sie anschließend mit Spucke die Zahl 4 wegzuwischen. Mit Gewalt wurde sie daran gehindert. Deshalb ist die Zahl etwas verwischt. Da sie damals ein Kind war, wuchs die Nummer mit ihrer Haut und ist deshalb heute so groß. Bei Kindern hat man auf das „Z“ beim Stechen der Zahlen verzichtet.

    Sonjas Häftlingsnummer 3246
    Oskar Schopper

    Max Friedrich wurde neben anderen Sinti im Deutschen Reichsanzeiger vom 5.5.1943 unter den Personen aufgeführt, deren Vermögen entzogen worden war (durch die Gestapo Berlin). Das heißt, die Familie wurde vom Deutschen Reich enteignet.
    Niemals erhielten sie nach 1945 keine Entschädigung dafür. Nach bundesdeutscher Rechtsprechung sind die Sinti und Roma als „Asoziale“ zu recht nach Auschwitz deportiert worden!
    Die Familie von Max Friedrich wurde zunächst im Block 7 untergebracht, in dem Block, der für ehemalige Wehrmachtsangehörige vorgesehen war. Die Männer bekamen privilegierte Arbeiten zugewiesen.
    Sie wurden im Kanalbau oder als Gärtner beschäftigt. Verschiedene waren in der Küche und in der Effektenkammer und in der Bekleidungskammer tätig. Max arbeitete im Kanal-und Gleisbau und wohl auch in der Effektenkammer, die von den Häftlingen als „Kanada“ bezeichnet wurde. Hier stahl er auch heimlich Brot für seine Kinder. Damit konnten sie ihre Typhus-Infektionen auch überleben. „Er war nach dem Tod meiner Mutter Vater und Mutter zugleich!“, berichtete Sonja am 5.9.2019.
    Bei sog. Sportübungen des Zigeuner-Lagerführers Hofmann wurden zwei Verwandte von der SS ermordet: Oskar Schopper, Gretes Bruder und Max Schopper, ein Cousin.

    „Da musste man robben, gleiten und krauchen. Und da sind sie auf sie draufgesprungen, und sie sind getreten worden und geschlagen worden mit Knüppeln und Schippenstielen, so lange, bis sie liegenblieben. Und wer halt durchkam, der kam durch!“ - so Sonja im Interview 2019
    Die kleine Waltraut, Sonjas kleine Schwester, starb bereits 4 Wochen nach der Ankunft am 9. April 1943 in Birkenau an den Folgen einer Typhus-Infektion. „Die ganz kleinen Kinder starben zuerst!“, berichtete Sonja am 24.1.2020.
    Nachdem Waltraut verstorben war, hat Alfred sie – in ein Tuch gewickelt – zur Leichenhalle getragen. Dort hat man ihm die Kleine aus dem Arm genommen und auf den Haufen Leichen geworfen, die gestapelt vor dem Krematorium lagen. Alfred musste völlig entsetzt gewesen sein. Er traute sich aber nicht, dagegen zu protestieren, da er befürchten musste, dafür bestraft oder totgeschlagen zu werden. Völlig fassungslos ist er zu seiner Familie zurückgekehrt. Bis an sein Lebensende verfolgten ihn diese Erinnerungen.
    Auch ihre Mutter Grete erkrankte im Herbst 1943 an dieser schweren Krankheit und kam in den Krankenblock. „Sie hat immer das verseuchte Wasser aus dem Hahn getrunken. Unser Vater hat uns immer gesagt: Niemals daraus trinken!“ Sonja kann sich noch erinnern, wie die Familie die Mutter im Krankenbau besuchte. Sie kam aus dem Block, eine Decke um ihren Kopf geschlungen, völlig abgemagert und elend. Sie verstarb am nächsten Tag, dem 28.10.1943. Die Familie stand um ihr Bett, als sie verstorben war. Sie lag völlig abgemagert auf dem Strohlager. Bis heute verfolgen Sonja diese Erinnerungen.

    Sie kommen umso heftiger zurück, wenn im Fernsehen Dokumentationen über das Naziregime und ihr System der Konzentrationslager gezeigt werden.
    Als am 15.4.2020, dem 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen eine Sendung darüber im Fernsehen kam, war es wieder so weit. Sie konnte die ganze Nacht nicht richtig schlafen.
    Am selben Tag erhalten 5 mit einem Sammeltransport eingelieferte „Zigeuner“ die Nummern Z-8750 bis Z-8754. Ordnung muss sein.
    Georg Braun, ein Onkel von Sonja, war ein ganz herausragender Geiger gewesen. Natürlich beherrschte er auch das Saxophon, das Schifferklavier sowie die Gitarre perfekt – wie fast alle Sinti in ihrer Familie. Als er nach einem Gehirnschlag Ende 1943 im Krankenbau des Lages starb, bahrte man ihn dort öffentlich auf. Auf diese Weise erwiesen sie ihm eine ganz besondere Ehre. Es war das einzige Mal, dass einem Lagerinsassen diese hohe Ehre zuteil wurde.

    Die Sinti- und Roma-Familien erlebten den Massenmord an den Juden unmittelbar vor ihren Augen. Die berüchtigte Rampe grenzte unmittelbar an das „Zigeunerlager“, in dem die Sinti und Roma familienweise untergebracht waren.
    „Jeden Tag kamen die Züge an der Rampe an. Dann wurden die Frauen und Kinder aussortiert. Nur wenige kamen zur Arbeit. Fast alle kamen ins Gas“, berichtet Sonja. Sie verschwanden im Untergeschoss der Gaskammern und kamen nicht wieder heraus.

    Anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2020 war bei der Gedenkveranstaltung in der evangelischen Kirche in Cölbe vor dem Altar neben einem Koffer mit Judenstern aufgerollter rostiger Stacheldraht mit zwei Pfosten als Installation aufgebaut worden. Das erinnerte Sonja an Menschen, die sich in Auschwitz aus Verzweiflung in den metallenen Hochspannungs-Lagerzaun gestürzt haben.

    Sie sagte zu mir in der Kirche: „Dann kamen Funken aus ihnen heraus. Einmal auch aus dem Mund eines Mannes!“

    Die Familie Friedrich wurde komplett in einer Etage eines solchen „Bettes“ auf einer Breite von etwa 1,70 m untergebracht. Ein solcher Block wurde „Pferdestall“ genannt. Es waren eine Holzbaracken, die ursprünglich für 56 Pferde geplant waren. In ihnen wurden bis zu 1000 Häftlinge untergebracht. In der Mitte ein gemauerter Rauchabzug. Die Öfen konnten natürlich nicht die Baracken erwärmen. Im Winter wurde es minus 20 Grad und kälter.

    Von den nach Auschwitz deportierten Sinti und Roma - rund 22.600 Personen - starben bis zur Auflösung des Lagers über 19.300. Davon erlagen über 13.600 der planmäßigen Mangelernährung, den Krankheiten und Seuchen, und mehr als 5.600 wurden nach den Selektionen in den Gaskammern ermordet. Andere wurden Opfer von individuellen Gewaltattacken oder von Medizinverbrechen, unter anderem durch den KZ-Arzt Josef Mengele.

    Sonja wurde später mit ihrer Familie auch in die Blocks 23 und 27 verlegt. Im Gegensatz zu fast allen anderen Lagerabschnitten konnten die Häftlinge im Zigeunerlager mit ihren Familien zusammen bleiben. Die arbeitsfähigen Häftlinge wurden nicht Außenkommandos zugewiesen, sondern auf dem Lagergelände des KZ Auschwitz zum Rampenbau oder der Anlage einer Lagerdrainage eingesetzt, so wie Sonjas Vater. Die Lagerstraße des Lagerabschnitts wurde auch von Kindern, die schwere Steine schleppen mussten, gebaut.

    Luftbild von Birkenau (Ausschnitt) 1944

    Der Häftling Helmut Clement berichtet eine Geschichte, die mehrfach überliefert ist:
    „Ich erinnere mich noch an den Vorfall mit den Kindern, den beiden Sintikindern aus Österreich. Sie liefen zum Stacheldrahtzaun und hatten dort gespielt. Es gab da einen Graben, die sogenannte neutrale Zone, davor waren glatte Drähte und dahinter Stacheldraht. Die beiden Kinder haben dort miteinander gespielt und miteinander geredet. Plötzlich hat ein SS-Mann vom Wachturm herunter auf die Kinder geschossen. Er hat einfach auf die Kinder geschossen. Eines der Kinder erhielt einen Schuss in den Arm und in den Bauch, es war schwer getroffen.“

    Die hygienischen Verhältnisse im Lager waren katastrophal, da es nur unzureichende Waschmöglichkeiten gab, die Latrinen nur selten geleert wurden und das Wasser mit Keimen, v. a. Typhus, verunreinigt war. Zudem waren die zugeteilten Nahrungsrationen absolut unzureichend.

    Lageplan: Teilausschnitt von Birkenau

    Der Hunger war allgegenwärtig
    „Die Verpflegung bestand aus 1/4 Liter Wasser, in dem Steckrüben schwammen, 1/4 Liter Tee und einer Scheibe Brot.“ Hermine Horvath
    „Damals verlor ich auch meine beiden Kinder, sie sind buchstäblich verhungert.“ Julius Hodosi
    Weibliche Überlebende berichteten über Vergewaltigungen durch die SS-Aufseher, die sich bei den Entlausungsaktionen die schönsten Frauen ausgesucht hätten.

    Seuchen und Krankheiten
    Infolge der unhygienischen Lagerverhältnisse und der Mangelernährung breiteten sich im Lager Krankheiten wie Krätze, Typhus, Masern und Fleckfieber aus. Viele Kinder waren im Gesichtsbereich von der Noma-Krankheit befallen. Die Häftlingsärztin Lucie Adelsberger berichtete nach Kriegsende über die Lebensumstände der Kinder:

    Birkenau 2005

    „Die Kinder waren wie die Erwachsenen nur noch Haut und Knochen ohne Muskeln und Fett, und dünne, pergamentartige Haut scheuerte sich über den harten Kanten des Skeletts überall durch (…). Aber die Not dieser Würmer schnitt noch mehr ins Herz. Vielleicht, weil die Gesichter alles Kindliche eingebüßt hatten und mit greisenhaften Zügen aus hohlen Augen guckten (…). Krätze bedeckte den unterernährten Körper von oben bis unten und entzog ihm die letzte Kraft. Der Mund war von Noma-Geschwüren zerfressen, die sich in die Tiefe bohrten, die Kiefer aushöhlten und krebsartig die Wangen durchlöcherten (…). Vor Hunger und Durst, Kälte und Schmerzen kamen die Kinder auch nachts nicht zur Ruhe. Ihr Stöhnen schwoll orkanartig an und hallte im ganzen Block wider.“ Lucie Adelsberger

    Die Krankenbaracken waren mit 400 bis 600 Kranken belegt. Die Kranken wurden mit Stand vom April 1943 von 30 Häftlingsärzten und 60 Häftlingspflegern versorgt, die für die Behandlung nicht über ausreichend Medikamente oder Verbandsutensilien verfügten. Die Tötung der erkrankten Häftlinge war dabei ein übliches Mittel der „medizinischen“ Behandlung. Josef Mengele war ab dem 24. Mai 1943 Lagerarzt im „Zigeunerlager“ und stieg dort zum leitenden Lagerarzt auf. Er war für die alltäglichen Krankenblockselektionen verantwortlich und ließ sich von jedem Block ein genaues Verzeichnis der Kranken mit Diagnose und Prognose durch die von ihm abhängigen Häftlingsärzte anfertigen. Eine Prognose über eine Heilungsdauer von mehr als drei Wochen bedeutete praktisch automatisch das Todesurteil für den betreffenden Häftling.

    Die Bekämpfung von Seuchen fiel ebenfalls in die Zuständigkeit der Lagerärzte. Mengele bekämpfte die Fleckfieberepidemie, indem er eine Baracke räumen und die 600 bis 1000 Häftlinge durch Gas töten ließ. Die leere Baracke ließ er desinfizieren. Die Häftlinge der benachbarten Baracke wurden dann entlaust. Danach wurden sie nackt und ohne Habseligkeiten umgesiedelt und erhielten schließlich neue Kleidung. Dieser Vorgang wurde mit Häftlingen weiterer Baracken fortgesetzt. Die Möglichkeit, diese Aktion ohne den Mord an den Häftlingen durchzuführen, war offensichtlich in Mengeles Vorstellungswelt nicht vorhanden, wie die ehemalige Häftlingsärztin Ella Lingens 1985 anmerkte. Zu den weiteren Häftlingsärzten gehörte Berthold Epstein.

    Die meisten Häftlinge des „Zigeunerlagers“ stammten aus Deutschland und Österreich (62,75 % zuzüglich 4,46 % Staatenlose, die vermutlich mehrheitlich Deutsche waren), aus dem Protektorat Böhmen und Mähren kamen 22 % und dem besetzten Polen 6 % der Häftlinge.

    Etwa hundert reichsdeutsche „Zigeuner“ hatten vor ihrer Deportation bei der Wehrmacht Kriegsdienst geleistet und waren teils direkt von der Front in das Lager eingeliefert worden. Darunter auch Max Friedrich, der Vater von Sonja und Adam Strauß aus Cölbe, Sonjas späterer Mann.

    Unter den Lagerinsassen befanden sich auch „Zigeunerinnen“ mit ihren Kindern, die mit „arischen“ Deutschen verheiratet waren, die Kriegsdienst leisteten.

    16. Mai 1944: An diesem Tag sollte das Zigeuner-Lager aufgelöst werden. Sonja Strauß und ihre Familie sind noch darin!

    „Gegen 19 Uhr wird im Zigeuner-Familienlager B II e in Birkenau eine Lagersperre verkündet. Vor dem Lager fahren Wagen vor, aus denen mit Maschinengewehren bewaffnete SS-Männer aussteigen und das Lager einkreisen. Der Leiter der Aktion gibt den Zigeunern den Befehl, die Unterkunftsbaracken zu verlassen. Da sie vorgewarnt sind, verlassen sie mit Messern, Brecheisen, Spaten und Steinen bewaffneten Zigeuner das Lager nicht. Erstaunt begeben sich die SS-Männer zum Leiter der Aktion in der Blockführerstube. Nach einer Beratung wird mit einem Pfiff das Signal gegeben, dass die SS-Männer der Begleitmannschaften, die die Baracken umstellt haben, sich von ihren Posten zurückziehen sollen. Die SS-Männer verlassen das Lager B II e. Der erste Versuch, die Zigeuner zu liquidieren, ist gescheitert.“ Das berichtet Danuta Czech im Kalendarium des Konzentrationslagers Auschwitz.
    An diesem Tag trifft der erste Transport ungarischer Juden ein. Die Massenvergasungen beginnen.

    Vor der Selektion an der Rampe in Birkenau 1944

    17. Mai 1944: Im Zigeuner-Familienlager leben noch 2 830 Männer und Jungen. Am selben Tag wird registriert, wer von den Männern in der Wehrmacht gedient und militärische Auszeichnungen erhalten hat. Die Registrierung dauert mehrere Tage.

    Am 25. Mai notiert die Widerstandsgruppe des Lagers, dass bereits 100 000 ungarische Juden vergast worden sind. Vor den Augen der verbliebenen „Zigeuner“ im Lager!

    „Die Schornsteine rauchten Tag und Nacht!“ erinnert sich Sonja.

    Sonja berichtet am 14.1.2020, dass sie mit ihrer Familie zweimal selektiert worden sind. Als man festgestellt hatte, dass Max Friedrich Wehrmachtssoldat war, hat man sie wieder aus der Reihe der Zigeuner herausgeführt. Die anderen wurden vergast.

    Die endgültige Liquidierung des Zigeuner-Lagers erfolgte am 2. und 3. August 1944.

    Ein kleiner Teil der Gefangenen wurde am 2. August in der Frühe zur Zwangsarbeit in andere Konzentrationslager (wie KZ Buchenwald, KZ Ravensbrück) überstellt. Darunter fielen auch Max Friedrich und Adam Strauß, da sie als Familienoberhäupter als Soldaten der Wehrmacht gedient hatten. Heinz Strauß, Adams 17jähriger Bruder, war wie sein Vater Ewald im April 1944 in das KZ Buchenwald deportiert worden.

    „Um 19 Uhr wurde das Zigeunerlager nach einem Befehl aus Berlin abgeriegelt. 1408 Häftlinge wurden mit dem Güterzug ins KZ Buchenwald verlegt, die verbliebenen 2897 Frauen, Männer und Kinder in den Gaskammern getötet. Da Lagerleiter Bonigut sich krankgemeldet hatte, brachte der SS-Unterscharführer Fritz Buntrock die Menschen zu den Gaskammern. Dort wurden sie in Gruppen unter Anwesenheit von Schutzhaftlagerführer Johann Schwarzhuber und des Leiters des Sonderkommandos Otto Moll ermordet. Am Morgen des 3. August 1944 wurden jene, die sich zunächst im Lager verbergen konnten, von SS-Angehörigen erschlagen oder erschossen.

    „Wir hörten ein furchtbares Geschrei. Die Zigeuner wussten, dass sie in den Tod geschickt werden sollten, und sie schrien die ganze Nacht. Sie waren lange in Auschwitz gewesen. Sie hatten gesehen, wie die Juden an der Rampe ankamen, hatten Selektionen gesehen und zugeschaut, wie alte Leute und Kinder in die Gaskammer gingen. *Und darum+ schrien sie.“ Menashe Lorinczi (Häftling aus Mengeles Zwillingsgruppe)

    Die unterirdischen Gaskammern mit dem dazu gehörigen Krematorium

    „Erst als sie barackenweise nach dem Krematorium I wanderten, merkten sie es. Es war nicht leicht, sie in die Kammern hineinzubekommen.“ Rudolf Höß (Kommandant in Auschwitz).

    „Die Sinti haben sich auch gegen die „Liquidierung“ des „Zigeunerlager“ zur Wehr gesetzt. Das war eine ganz tragische Geschichte. Da haben die Sinti aus Blech Waffen gemacht. Sie haben die Bleche zugespitzt zu Messern. Damit und mit Stöcken haben sie sich bis zum Äußersten gewehrt. Ich kenne eine Augenzeugin, eine Polin, Zita hieß sie, die bei uns gegenüber im Arbeitseinsatz war, die hat die Auflösung des „Zigeunerlagers“ miterlebt. Sie hat mir später unter Tränen erzählt, wie sich die Sinti so verzweifelt geschlagen und gewehrt haben, weil sie wussten, dass sie vergast werden sollten. Und dann wurde dieser Widerstand mit Maschinenpistolen niedergeschossen *…+“ Elisabeth Guttenberger, Häftling des „Zigeunerlagers“.

    Josef Friedrich mit seinem Sohn Eduard

    Josef Friedrich (Z 9810), der Onkel von Sonja, war auch am Aufstand beteiligt. Er wurde bei der Liquidierung des Zigeunerlagers von der SS ermordet. Nach der Lagerchronik erfolgte das Verbrennen aller Leichen nach der Vergasung, da die Krematorien außer Betrieb waren, in einer großen Grube voller Teer, den man angesteckt hatte. Darunter auch die Frau von Josef und seine 3 Söhne: Eduard („Bulanschi“), „Prinzeli“ und „Fersch“.

    Nur seine Tochter Gisela konnte das Morden überleben.

    Im Herbst 1944 wurden viele Sinti und Roma aus anderen Arbeitslagern nach Auschwitz deportiert. Am 26.9.1944 kamen 70 Kinder und Jugendliche Sinti und Roma nach Auschwitz. Im Oktober wurden alle vergast. Darunter auch Salamanda Strauß aus Cölbe, die Schwester von Adam Strauß, Sonjas späterem Mann. Ihr Todesdatum wurde vom Internationalen Suchdienst mit dem 21. Oktober 1944 angegeben.

    Max Friedrich wurde mit seinen vier überlebenden Kindern am 2. August 1944 in das KZ Ravensbrück deportiert. Auch Adam Strauß. Max, sein Sohn Alfred und Adam Strauß wurden in das dort aufgebaute Männerlager gebracht, während die drei Töchter Sonja, Eva und Agathe im Frauenlager festgehalten wurden. Ursprünglich war Ravensbrück von KZ-Häftlingen aus Sachsenhausen 1939 als reines Frauen-KZ gebaut worden. In ihm wurden bis 1945 28.000 Häftlinge ermordet.

    KZ-Arzt Carl Clauberg
    KZ-Arzt Joseph Mengele

    Männer und Frauen, die von der Vernichtung in Birkenau ausgenommen wurden, waren gezwungen, sich sterilisieren zu lassen. Die Zwangssterilisationen wurden in den Konzentrationslagern durch SS-Ärzte vorgenommen. Absicht der Nationalsozialisten war es, die Fortpflanzung der als „minderwertig“ betrachteten „Zigeuner“ zu verhindern.“

    Max, Alfred und Sonja Friedrich sowie Adam Strauß wurden von den besonders berüchtigten und brutalen Ärzten Josef Mengele und Carl Clauberg, die sie schon von Auschwitz kannten, in Ravensbrück zwangssterilisiert. Die jüngeren Töchter Eva und Agate waren dafür – nach Meinung der Ärzte - zu jung (9 und 10 ½ Jahre).

    Man hatte ihnen vor der Sterilisation gesagt, dass sie damit am Leben bleiben würden, da sie ja keine weiteren Kinder mehr zur Welt bringen könnten. „Warum haben die das gemacht? Der Krieg war doch sowieso schon verloren?

    Es waren doch nur noch ein paar Monate bis zum Kriegsende! Wie gerne hätten Adam und ich Kinder bekommen!“, sagte Sonja am 14. Januar 2020.

    Mit der von Clauberg erarbeiteten Methode einer operationslosen Massensterilisierung wurde ein für diese Zwecke speziell präpariertes chemisches Mittel in die Eileiter injiziert, das deren starke Entzündung zur Folge hatte. Nach einigen Wochen waren die Eierstöcke zusammengewachsen und damit verstopft. Einige Jüdinnen verstarben in Auschwitz-Birkenau und im Stammlager Auschwitz in direkter Folge der Experimente, andere wurden, weil sie nach Claubergs Kriterien unbrauchbar waren für die Experimente, selektiert, in Birkenau im Gas erstickt oder in einem Arbeitskommando ums Leben gebracht.

    Von 1942 bis 1944 wurden Clauberg in Auschwitz 498 Häftlinge „für Versuchszwecke“ zur Verfügung gestellt, wobei er pro Frau und Woche eine Summe von 1 Reichsmark an die Lagerleitung zu entrichten hatte. „Claubergs brutales Vorgehen ist bald lagerbekannt – einmal kommen SS-Aufseherinnen hinzu, weil sie sehen wollen, was er denn eigentlich mit den Frauen treibe, deren Geschrei durch das Lager hallt“. Aufgrund des Vorrückens der Roten Armee setzte er seine Versuche im Konzentrationslager Ravensbrück an mindestens 35 weiteren Frauen fort. Insgesamt führte Clauberg zwischen ca. 550 und 700 Zwangssterilisationen durch. Zu seinen Opfern zählte auch Sonja Strauß.

    Im Ravensbrück-Prozess sagte eine Lagerinsassin aus: „...120 bis 140 Kinder sind vom 4. bis 7. Januar 1945 behandelt worden. Ergebnis: vier Todesfälle, teils durch Bauchfellentzündung als Folge der (zu starken) Eileiterauffüllung, teils infolge des schlechten Allgemeinzustandes. Die Kinder wurden ohne weitere Nachbehandlung liegen gelassen.“

    Eines dieser Sterilisationsopfer war die 13-jährige Sonja.

    Sonja berichtet am 5.9.2019, dass sie zum Schluss ihrer Operationen, da die jungen Mädchen und Frauen so laut schrien, mit Äther betäubt wurden.

    Nach ihrer OP sei sie auf eine fahrbare Bahre unsanft gelegt worden, mit der man sonst Leichen wegtransportiert hatte. Ihre Tanten waren fassungslos, als sie zusehen mussten, wie sie nach der OP an den schweren Komplikationen fast gestorben wäre.

    Das Frauen-KZ Ravensbrück

    Sonja brauchte dann mehrere Tage, um sich von der Operation zu erholen.
    Ihr Bruder Alfred – er war 14 Jahre alt - erlitt nach seinem Sterilisations-Eingriff eine eitrige Entzündung und musste ins Krankenrevier des KZs gebracht werden.

    Baracke in Ravensbrück

    Als es zwischen den Lagerteilen am Stacheldrahtzaun zu einem Treffen zwischen Max Friedrich und seinen Töchtern kam, wollte ein SS-Soldat das unterbinden und legte das Gewehr an. Max sprang hinzu und bog den Lauf nach unten. „Sie wollen doch nicht etwa auf Kinder schießen?“ Der SS-Mann hieb ihm daraufhin das Gewehr ins Gesicht und schlug ihm dabei eine Reihe von Zähnen aus. „Lauft weg!“ schrie Max seinen Kindern zu.

    Anfang 1945 deportierte man die Tanten mit ihren Kindern sowie Sonja und ihre Schwestern nach Mauthausen. Sonjas Großmutter Rosalie Schopper, die Auschwitz und die Deportation nach Ravensbrück überlebt hatte, war so schwach, dass sie den Weg zum Zug nach Mauthausen nicht gehen konnte. Sie hatte in Ravensbrück nicht mehr essen wollen. Ihre kümmerlichen Rationen hat sie an ihre Enkelkinder abgegeben. Ihre Töchter stützten sie. Daraufhin schritten die KZ-Wächterinnnen ein. Sie befahlen, die Oma in Ravensbrück zu lassen. Alle wussten, was das bedeutete. Sie setzten die Oma auf einen Stuhl und umarmten sie zum Abschied. Alle wussten, dass sie ihre geliebte Oma niemals mehr wiedersehen würden. So geschah es auch. Rosalie Schopper wurde in Ravensbrück ermordet.

    Sonja und ihre Schwestern wurden gemeinsam mit ihren Tanten Ella und Antonia und ihren Kindern in das berüchtigte KZ Mauthausen 20 km südlich von Linz gebracht. Bis 1945 wurden dort 100.000 Menschen umgebracht.

    Dort lebten sie in Holzbaracken. Durch die Spalten der Baracke konnte Sonja eines Tages sehen, wie Männer Leichen von Häftlingen auf einen Wagen warfen. „Das sind Schweine, keine Menschen!“ versuchten die Tanten sie zu beruhigen. Sonja hatte aber das Gesicht einer Frau mit weit aufgerissenen Augen gesehen. Diesen Anblick hat sie bis heute nicht vergessen.

    KZ Mauthausen, Lagerbordell
    Baracke im Lager Mauthausen

    Zum Glück wurden die Frauen nicht zum Arbeiten gezwungen. Nach 2 bis 3 Wochen wurden sie nach Bergen-Belsen deportiert.

    In diesem Lager herrschten horrende Zustände.

    Bergen-Belsen 1945

    Die Leichen stapelten sich vor den Blocks. Überall sprangen Ratten herum und nagten an deren Körpern. Seuchen wie Ruhr und Typhus grassierten. Alle Häftlinge waren massiv unterernährt und starben wie die Fliegen, darunter auch die aus Frankfurt stammende Anne Frank.

    Sonja und ihre Familie mussten im Freien ohne Decken schlafen. Sonja und ihre Schwestern rissen Grasbüschel aus, um unter sich ein Polster zu schaffen. Decken zum Zudecken gab es nicht. Da sie bereits in Auschwitz eine Fleckfiebertyphus-Infektion überstanden hatte, wurde sie von einer weiteren Infektion in Bergen-Belsen verschont. „Es war furchtbar dort“, sagte sie im Interview 2019.

    3 Wochen habe man nichts anderes als Steckrüben zum Essen bekommen. Kein einziges Stück Brot!

    Bergen-Belsen kurz nach der Befreiung
    Massengrab in Bergen-Belsen mit dem Lagerarzt Fritz Klein, der helfen musste, die Leichen zu bestatten.

    Ihre Tante Antonie ist in Bergen-Belsen, kurz nach der Ankunft von Mauthausen, gestorben. Am nächsten Tag starb ihr kleiner Sohn Willi. Ihr Sohn Heinzi kam bereits in Auschwitz ums Leben. Antonies Leichnam hatten sie zu den anderen an den Straßenrand gelegt. Als die Mädchen nach einer Weile wieder nach ihr geschaut haben, war ihr Körper von anderen Leichen bedeckt.

    Für sie hat die Familie Friedrich nach dem Krieg einen Grabstein gestiftet und in Bergen-Belsen aufstellen lassen. Auf dem Grabstein wurde auch an ihre anderen Familienmitglieder erinnert. An Antonies Vater, der in Auschwitz gestorben ist, ihre Mutter und den kleinen Heinzi.

    Am 15. April erfolgte die Übergabe des neutralisierten Gebietes, auf dem sich noch rund 60.000 ausgezehrte Häftlinge befanden. Die Befreier fanden zahlreiche unbestattete Leichen und zum Skelett abgemagerte, todkranke Menschen vor. Bergen-Belsen wurde daher zum „Symbol für die schlimmsten Gräuel und die unmenschliche Barbarei des nationalsozialistischen Konzentrationslagersystems“, insbesondere in Großbritannien, dessen Truppen es befreiten und die Rettungsmaßnahmen für die Überlebenden einleiteten.

    Der britische Militärarzt Hugh Llewellyn Glyn Hughes schrieb:
    „Kein Bericht und keine Fotografie kann den grauenhaften Anblick des Lagergeländes hinreichend wiedergeben… An zahlreichen Stellen waren die Leichen zu Stapeln von unterschiedlicher Höhe aufgeschichtet… Überall im Lager lagen verwesende menschliche Körper… [Die Baracken] waren überfüllt mit Gefangenen in allen Stadien der Auszehrung und der Krankheit.“

    Gedenkstätte Bergen-Belsen heute

    Eine größere Sanitätseinheit kam am 17. April im Lager an. Ebenfalls am 17. April 1945 wurde das SS-Lagerpersonal verhaftet und bei dem Konzentrationslager in Zelten untergebracht. Die SS-Männer und weiblichen Angehörigen des SS-Gefolges mussten schließlich mithelfen, die zu Tausenden auf dem Lagergelände herumliegenden Leichen in Massengräbern zu bestatten. Die verseuchten Baracken wurden nach und nach bis Mitte Mai geräumt und abgebrannt.

    Nach der Befreiung durch Britische Truppen sind in Bergen-Belsen viele ehemalige Häftlinge gestorben, weil sie heißhungrig das ungewohnte und zu fette Essen zu sich genommen hatten.
    Agate Braun, eine Schwester von Sonjas Vater, hatte mit ihren beiden Kindern auch Bergen-Belsen überlebt. Als sie und ihre 3 Nichten Sonja, Agate und Eva nach ein paar Tagen gesundheitlich einigermaßen wieder erholt waren, sagte sie: „Jetzt machen wir uns auf, damit wir nach Hause kommen!“ Mit ihnen ging auch eine andere Sinti-Frau mit ihren beiden Kindern, die sich unterwegs aber wieder von ihnen trennte.

    Ella Schopper blieb noch weiter in Bergen-Belsen, da sie zurück nach Berlin wollte. Nach dem Tod ihrer Schwester Antonie hat sie sich Antonies Kindern angenommen und sie groß gezogen.
    Zu Fuß sind Sonja und ihre Familie bis nach Rattelsberg bei Bamberg gelaufen. „Es ging ja im Mai kein Zug, kein Wagen, mit dem man fahren konnte! Wir sind den ganzen Weg bis nach Hause gewandert!“, sagte Sonja am 5.9.2019.

    Schuhe und Kleidung hatten sie sich unterwegs erbettelt. Übernachtet hatten sie zumeist in Scheunen. Von der Landbevölkerung haben sie auch ausreichend zu essen und trinken bekommen. Ihre wenigen Habseligkeiten hatten sie in einem Kinderwagen, den sie bis nach Hause geschoben haben. Jeden Tag 15 bis 20 Kilometer.

    Zu Hause in Rattelsdorf waren die ersten Verwandten schon eingetroffen, Überlebende der Hitlerbarbarei. Die meisten ihrer Familienangehörigen hatten die Nazis umgebracht.

    Anfang 1945 wurden Max und sein Sohn Alfred in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Von dort schickte man den Vater im März 1945 erneut an die Front, in die berüchtigte SS-Sondereinheit Dirlewanger, die schwere Kriegsverbrechen – insbesondere Massaker und Gräueltaten an der Zivilbevölkerung im Osten - begangen hatte. Diese Einheit kämpfte im Dezember 1944 in der Umgebung von Budapest gegen die vorrückende Rote Armee. Angesichts der drohenden Niederlage und der hohen Verluste hatte Dirlewanger bei der Rekrutierung auch auf politische Häftlinge aus Konzentrationslagern zurückgegriffen. 1944 begann er mit Genehmigung Himmlers in den Konzentrationslagern reichsdeutsche Häftlinge zu rekrutieren, die sich „innerlich gewandelt“ und den Wunsch hätten, der Wehrmacht beizutreten und für das Großdeutsche Reich zu kämpfen.

    Adam Strauß und Max Friedrich wurde die Freiheit versprochen, wenn sie der Einheit beitreten würden. Was für ein niederträchtiges Angebot! Es war von Anfang an klar, dass das ein Himmelfahrtskommando sein würde. Wie verzweifelt musste man sein, um das anzunehmen!
    Bei den Kämpfen im Osten Berlins wurde Max Friedrich durch den Luftdruck der Explosion einer Mine in einen Baum geschleudert. Mit zahlreichen Splittern wurde er schwer verletzt in ein Lazarett gebracht wurde. Überall im Körper- vor allem in einem Bein - hatte er Granatsplitter. Über 20 hatte man aus ihm herausoperiert. Es gelang den Ärzten aber, sein Bein zu retten. Das Kriegsende erlebte Max Friedrich in einem Lazarett in Berlin.

    Adam Strauß erhielt bei einem Tieffliegerangriff Schussverletzung im Oberschenkel und Beckenknochen. Auch sein Bein konnte gerettet werden. Das Geschoss im Becken ließ man stecken, da die OP zu gefährlich gewesen wäre. Als er 2003 starb, war die Kugel noch in seinem Körper.

    Sonjas Bruder Alfred gelang die Flucht mit seinem Cousin Frank Steinbach während eines Evakuierungsmarsches. Sie schlugen sich nach Berlin durch, denn dort hatten die Großeltern in einer Schrebergartenkolonie eine Laube. Unterwegs bekamen sie – sie waren ja erst 14 und 15 Jahre alt - Essen von Dorfbewohnern zugesteckt. Sie überlebten!

    Nach dem Ende des Krieges trafen sich die Überlebenden der Familie Friedrich an der Laube der Oma in Berlin-Pankow.

    Laubenkolonie in Pankow heute

    Zu Weihnachten 1945 gelang es endlich auch Max Friedrich, zu seinen Kindern nach Rattelsdorf zu kommen. Gemeinsam mit Alfred. Die Familie hatte sich in Berlin nach Kriegsende am Haus der Oma in Pankow wieder getroffen. Die Überlebenden der Nazibarbarei.

    Auf die Menschen von Rattelsdorf lässt Sonja nichts kommen. „Wir sind doch mit denen in die Schule gegangen. Die meisten waren gute Menschen! Sie haben meine Großeltern 1943 doch auch gewarnt!“

    Von ihrem Hab und Gut war kaum noch etwas übrig geblieben. Von Entschädigung ihrer geraubten Güter konnte keine Rede sein.

    Rattelsdorf in Franken heute

    Aus eigener Kraft haben die Familien Strauß und Friedrich ihr Schicksal nach 1945 selbst in die Hand genommen.

    Erst mit der Gründung und den Aktivitäten des „Zentralrates deutscher Sinti und Roma“ im Jahre 1982 wurden endlich wirksame Entschädigungsleistungen für die Überlebenden des Völkermordes erkämpft.

    Bundeskanzler Helmut Schmidt empfing am 17. März 1982die Vertreter des Zentralrates der Sinti und Roma im Kanzleramt. Er stellte anschließend fest, dass der Völkermord an den Sinti und Roma aus rassepolitischen Gründen erfolgt ist.

    1985 wurden in 3200 Einzelfällen bundesweit Neuentscheidungen der Entschädigungsbehörden durchgesetzt. In Hessen geschah dies auf Initiative des Landesverbandes der Sinti und Roma unter der Leitung von Adam Strauß, dem Neffen von Sonja. Diese erkämpften Gerichtsurteile waren seitdem auch für solche Einzelpersonen relevant, die nicht in einem Lager inhaftiert waren, sondern sich durch Verstecken dem Zugriff der Nazibehörden entziehen konnten.

    Anfangs arbeitete Max Friedrich im Schaustellergewerbe. Danach war er mit der Tanzkapelle „La Romanderie“ in ganz Deutschland unterwegs. „In Hamburg und Kiel fragten die Leute später noch nach ihnen!“, sagte Sonja Strauß im September 2019.

    „La Romanderie“ Ende der 60er Jahre. Adam Strauß spielt den Bass (ganz links), Max Friedrich die Geige in der Mitte

    Das Haus in Rattelsdorf hat die Familie Friedrich bis 1957 bewohnt. Als die Großeltern starben, hat ihr Vater Max das Elternhaus verkauft. Von diesem Erlös und anderen Familieneinkünften kaufte man sich ein eigenes Haus in Würzburg-Heidingsfeld.

    1964 nahm Max Friedrich als Zeuge am Auschwitz-Prozess teil, der in Frankfurt gegen NS-Beamte stattfand, die im Rahmen der Ausrottungsmaschinerie im Lager Auschwitz-Birkenau teilgenommen hatten. Er war einer der ersten Sinti und Roma, die über den Völkermord an ihrem Volk berichteten.

    Max Friedrich in den 60er Jahren während des Auschwitz-Prozesses

    Zur Zeit seiner Vernehmung am 11. Dezember 1964 war der Zeuge Max Friedrich 55 Jahre alt und lebte als Schausteller in Würzburg, Stuttgarter Straße 17.

    „Wir sind nach Ravensbrück gebracht worden. Mit dem Versprechen, später entlassen zu werden , wurden wir sterilisiert, nicht wahr! Meine Geschwister und die Anverwandten sind in Auschwitz geblieben. Dann haben sie uns erzählt, wir sollen uns freiwillig bei der Wehrmacht wieder melden. Wer den Krieg überlebt, werde in die Heimat entlassen. Und so sind wir zur Wehrmacht gekommen, 1945 noch einmal. Die andern von unserer Familie haben sie alle vergast.“

    (121. Verhandlungstag, 11.12.1964)

    Sonja kannte Adam Strauß schon aus ihrer Kindheit. Beide Familien hatten sich bereits vor dem Krieg getroffen.

    Adam Strauß hatte vor dem Krieg Elfriede geheiratet. Aus dieser Ehe gingen die Tochter Brigitte und ein Sohn hervor. Alle wurden nach Auschwitz deportiert. Der Sohn kam in Auschwitz – er war noch ein Baby - ums Leben. Elfriede und Brigitte überlebten.

    Kennen und lieben gelernt hatte Sonja ihren Mann Adam bei einem Sinti-Treffen in Würzburg. 1955 zogen sie gemeinsam nach Cölbe. 1957 heirateten sie.

    Sonja und Adam Strauß 1957

    Eine Entschädigung für die im KZ erlittenen Leiden erhielten sie erst Mitte der 60er Jahre.
    „Ein betrübliches Beispiel solcher Blindheit bietet ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH), der 1956 entschied, dass die "Zigeuner" erst seit März 1943 aus rassischen Gründen verfolgt worden seien; vorher habe es sich um sicherheitspolizeilich oder militärisch motivierte Ordnungsmaßnahmen gehandelt.

    Dieses Urteil wirft ein Schlaglicht darauf, dass die Geschichte der Entschädigung stets auch eine Geschichte des Unterscheidens ist – zwischen dem, was als spezifisches NS-Unrecht angesehen wurde, und dem, was als "normale" staatliche Ordnungsmaßnahme oder "gewöhnliche" Kriegsfolge gelten sollte. Das Urteil zeigt die Fortdauer einer mentalen Prägung, in der bestimmte Phasen und Formen der Unterdrückung von Sinti und Roma als normal und nicht als NS-Verfolgung erschienen. 1963 änderte der BGH seine Linie und urteilte, dass die rassische Verfolgung der "Zigeuner" 1938 begonnen habe. Das Bundesentschädigungs-Schlussgesetz machte es daraufhin möglich, dass Sinti und Roma, deren Entschädigung für die zwischen 1938 und 1943 erlittene Verfolgung rechtskräftig abgelehnt worden war, eine neue Entscheidung beantragen konnten. Gleichwohl blieben sie in der Wiedergutmachung "strukturell benachteiligt".

    Adam Strauß als Alleinunterhalter
    Adam Strauß, Max Friedrich und Adam Strauß jr., der Sohn von Heinz Strauß, Adams Bruder

    Adam hat als Musiker sein Geld verdient. Er spielte in der Kapelle seines Schwiegervaters Max Friedrich Bass, Gitarre und Keyboard.

    Das Familiengrab der Familie Friedrich in Würzburg-Heidingsfeld. Hier möchte auch Sonja beigesetzt werden.

    Da Sonja und Adam Strauß keine eigenen Kinder bekommen konnten (auch Adam Strauß war in Ravensbrück zwangssterilisiert worden), adoptierten sie Gottlieb, den Enkel von Sonjas jüngerer Schwester Agate. Seine beiden Söhne leben in der Nähe von Gelnhausen. Sonja ist stolz auf ihre Enkel und den 2019 geborenen Urenkelsohn.

    Nach der Auflösung der Musikband verdiente Adam Strauß den Lebensunterhalt seiner Familie als Musiker bei Familienfeiern.

    Sonja Strauß erhält heute eine Opferrente nach dem Bundesentschädigungsgesetz von 611 € (KZ-Rente) sowie 513 € für ihre Zwangssterilisation. Letztere aber erst seit den 90er Jahren. Dazu bezieht sie eine kleine Hinterbliebenenrente.

    Eva und Sonja Strauß in den 60er Jahren

    Sonja hat mit ihrer Familie zuerst in Cölbe in einer Mietwohnung gewohnt. Dann bekamen sie vom Bürgermeister Feußner die Erlaubnis, am Cölber Eck einen Wohnwagen zu beziehen. Seitdem wohnten sie dort und verkauften nebenbei Korbwaren bis Adam starb.
    Die Ehe war sehr glücklich.
    Adam Strauß verstarb nach einem schweren Nierenleiden 2003.

    Sonja ist mit ihren 89 Jahren immer noch sehr mobil. Sie hat einen Kleinwagen, mit dem sie Besorgungen macht, Arzttermine wahrnimmt oder Verwandte besucht. Auch während der Corona-Zeit fährt sie noch hin und wieder zu den Enkeln.
    Am 14. November 2020 stirbt ihr Bruder Alfred nach einem Jahr schwerer Leiden mit 90 Jahren. Er wurde am 19.11.2020 im Familiengrab in Heidingsfeld beigesetzt. Sonja sagt, es sei eine Erlösung für ihn gewesen. An seiner Beerdigung wollte eigentlich Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland teilnehmen. Doch es kam nicht dazu, weil er unter Corona-Quarantäne stand.
    Jetzt ist sie die letzte ihrer Generation, die noch lebt.

    Es war für Sonja eine Genugtuung, dass die Gemeinde Cölbe an sie und ihre Familie erinnerte, als am 7. August 2019 die Gedenktafel für die Familie Strauß vor der evangelischen Kirche in Cölbe enthüllt wurde.

    Romano Strauß, der Neffe von Sonja, bei seiner Rede anlässlich der Enthüllung der Gedenktafeln am 7. August 2019

    Und sie kam auch am 27. Januar 2020 als Ehrengast in die evangelische Kirche in Cölbe, wo von Seiten der Gemeinde und der evangelischen Kirchengemeinde dem 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee gedacht wurde - als Überlebende und Zeitzeugin eines beispiellosen Verbrechens, das in deutschem Namen verübt wurde. Die OP berichtete darüber in einem exklusiven Artikel.

    Oberhessische Presse 28. Januar 2020

    Immer dann, wenn die Erinnerungen hochkommen oder wenn im Fernsehen Filme über die Nazizeit oder Konzentrationslager gezeigt werden, kommen die Träume wieder. Dann steigen die Bilder wieder auf, die Erinnerungen an ihre Mutter und all die anderen Familienmitglieder, die von den Nazis ermordet wurden. An all das Grauen.

    Das wird sie nie mehr los.


    Quellen

    Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin: https://www.gdw-berlin.de/en/recess/biographies/index_of_persons/biographie/view-bio/max-friedrich/?no_cache=1

    Porrajmos: Te Bisterdon Tumare Anava

    http://porrajmostebisterdontumareanava.blogspot.com/2011/03/max-friedrich.html

    Verschiedene eigene Interviews mit Sonja Strauß, insbesondere am 5.9.2019

    Fritz Bauer Institut: Mitschnitte im Frankfurter Auschwitz-Prozess:
    http://www.auschwitz-prozess.de/index.php?show=T%2003_Der%20Tonbandmitschnitt%20des%20Auschwitz-Prozesses

    Rezension Dieter Korczak: Sinti und Roma in der Stadt Bernau bei Berlin Ihr Schicksal während und nach der Zeit des Nationalsozialismus hrsg. von der Stadt Bernau bei Berlin Stadt Bernau bei Berlin 2018ISBN 978-3-00-061750-8 67 Seiten, Rüdiger Benninghaus, Köln, 9. Februar 2019

    http://gypsy-research.org/images/PDF/resources-benninghaus-rezension-korczak.pdf

    Donata Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birlkenau 1939-1945, Hamburg 1989

    Udo Engbring-Romang: Die Deportation der Sinti und Roma aus der Stadt Marburg und dem heutigen Kreis Marburg-Biedenkopf, in: Von der Ausgrenzung zur Deportation im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Neue Beiträge zur Verfolgung und Ermordung von Juden und Sinti im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch. Herausgegeben von Klaus-Peter Friedrich im Auftrag der Geschichtswerkstatt. Marburg 2017, S. 425 ff.

    Ders.: Sinti aus Marburg und Biedenkopf in Auschwitz, Buchenwald, Ravensbrück. Ebenda, S. 442 ff.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Zigeunerlager_Auschwitz

    „Mainpost“ vom 18.11.2020
    Hans Junker