Im letzten Jahr wurde mir von einer zugezogenen Cölber Bürgerin mitgeteilt, dass ein Cölber namens Heinrich Schild 1941 in der Landesheilanstalt Hadamar ermordet worden sei. Dies ginge aus Unterlagen der Gedenkstätte in Hadamar hervor. Da ich keine Nachkommen der Familie in Cölbe ausfindig machen konnte, wandte ich mich daraufhin an das Bundesarchiv in Berlin mit der Bitte um die Übersendung seiner Krankenakte. Mit ihrer Hilfe konnte ich sein Schicksal rekonstruieren.
Heinrich Schild wurde am 20.3.1899 in Cölbe geboren. Von Geburt an hatte er an der rechten Hand am 3, 4, und 5. Finger eine Sehnenverkürzung. Nach der Schule wollte er Metzger werden, was aber wegen der Hand nicht ging. Zunächst war er ein Jahr Hilfsarbeiter bei der Eichhornapotheke in Marburg, danach 2 Jahre Tiefbauarbeiter.
Von 1917 bis 1919 diente er als Soldat beim „Landsturm ohne Waffen“. Er wurde bei Erdarbeiten eingesetzt, später auch in der Küche. Nach dem Krieg arbeitete er wieder im Tiefbau („Erdarbeiter“). 1927 -1928 war er arbeitslos. Danach war er wieder für kurze Zeit im Tiefbau beschäftigt. Heinrich Schild half zu Hause im Haushalt mit und ging auch mit zum Holzmachen im Wald.
Wegen starker psychischer Auffälligkeiten wurde er von seinem begleitenden Arzt Dr. Schild aus Cölbe, der entfernt mit ihm verwandt war, am 24.9.1929 in die Universitäts-Nervenklinik in Marburg eingeliefert, wo ihm nach eingehenden Untersuchungen eine Schizophrenie attestiert wurde. Am 21.10.1929 wurde er ungeheilt entlassen und in die Landesheilanstalt in Marburg überstellt.

Am 28.3.1930 entließ man ihn auf Wunsch seiner Mutter wieder nach Hause. Fast vier Jahre später, am 7. Januar 1934 wurde Heinrich Schild in Begleitung seines Hausarztes Dr. Schild sowie eines Cousins wieder zur Landesheilanstalt in Marburg gebracht. Heinrich Schild hatte zuvor in „einem Zustand gesteigerter Erregbarkeit“ gestanden und sich dabei gewalttätig gezeigt, „so dass die Aufnahme in die geschlossene Anstalt unbedingt geboten“ war. Dort verblieb er völlig unauffällig bis zum April 1941.
In der Zwischenzeit hatten die Nazis mit der Umsetzung ihrer Rassenpolitik begonnen. Ziel war die „Aufnordung des deutschen Volkes“. Jede „Beeinträchtigung des deutschen Volkskörpers“ sollte durch die gesetzlich geregelte „Verhinderung“ der Fortpflanzung von Menschen mit einer echten oder angeblichen Erbkrankheit sowie von sozial und rassisch unerwünschten Menschen verhindert werden. Mittel war dazu – neben der Zwangssterilisation von 400 000 Menschen - schließlich das „Ausmerzen“ in Form der Vernichtung von „lebensunwertem Leben“.

Hitler persönlich ordnete dies am 1.9.1939 persönlich an.
Babys und Kinder waren die ersten Opfer
Man begann unmittelbar danach 1939 mit der Ermordung von 5000 erbkranken körperlich oder geistig behinderten Babys und Kindern, der sogenannten „Kindereuthanasie“. Angeordnet wurde sie von der „Kanzlei des Führers“ in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Die Mordaktion wurde deshalb später als „Aktion T 4“ bezeichnet. 1940 begann man dann mit der systematischen Vergasung von 70 000 Erwachsenen in Deutschland. Der Mord an diesen Menschen – sie wurden mit Kohlenmonoxid vergast - wurde beschönigend „Euthanasie“ genannt: Griechisch für „Schöner Tod“. Unter den Opfern waren auch etwa 5.000 ehemalige Heeressoldaten, die aufgrund der im Ersten Weltkrieg erlittenen schweren psychosozialen Störungen in Heilanstalten lebten.
Am 28.4.1941 wurde Heinrich Schild „aus Gründen einer Neuverordnung der Heilanstalt“ von Marburg nach Scheuern verlegt. Diese „Erziehungs- und Pflegeanstalt“ bei Nassau an der Lahn gehört zur Inneren Mission der evangelischen Kirche.

Sie diente wie 8 andere Einrichtungen in Deutschland als Zwischenstation zu den 6 Tötungsanstalten. Damit sollte sichergestellt werden, dass – um kein unnötiges Aufsehen zu erregen - nur so viele Opfer in die Tötungsanstalten gebracht wurden, wie unmittelbar darauf ermordet werden konnten.

Nach 1940 wurden über 1000 Menschen nach Scheuern verbracht. Die meisten von ihnen wurden ab dem 13. März 1941 mit sogenannten Gekrat-Bussen, die eigens für die Mordaktion von Berlin aus bereitgestellt wurden, nach Hadamar überstellt. Unter ihnen Heinrich Schild. In seiner Krankenakte wurde am 16. 5.1941 lapidar vermerkt: „Patient wird heute auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars in eine andere Anstalt verlegt“. Heinrich Schild wurde am selben Tag gemeinsam mit anderen Opfern aus Scheuern vergast. Sein Leichnam wurde anschließend eingeäschert.


Aus Geheimhaltungsgründen und um die Angehörigen zu täuschen verschob das eigens eingerichtete „Sonderstandesamt“ in Hadamar das Todesdatum auf den 4. Juni 1941.
In Hadamar wurden insgesamt über 10 000 Menschen mit Kohlenmonoxid vergast. Die Ermordung der Kranken wurde auf Anordnung des Reichssicherheitshauptamtes der SS nach Protesten des Bischofs von Galen in Münster eingestellt, das Töten ging aber auf andere Art und Weise weiter. Weitere 4 500 Menschen wurden in Hadamar anschließend durch Giftinjektionen, durch Medikamente sowie vorsätzliches Verhungernlassen ermordet.
Leider gibt es von Heinrich Schild und seiner Familie kein Foto.
Im November 2026 soll in Cölbe zum Gedenken an Heinrich Schild ein Stolperstein verlegt werden.